In diese Krankenhauszeit fiel auch das letzte der offiziellen Outings. Fred, der eine katholische Schule in der Nachbarschaft besuchte, hatte ja bis jetzt darum gebeten, in der Schule nichts von Janas Veränderungen zu erzählen. Jetzt wollte sich Gustav, unser Kleiner, auch an dieser Schule bewerben und so kamen wir nicht mehr darum herum, auch dort reinen Wein einzuschenken. Bis auf ein paar engere Freunde von Fred wusste noch niemand Bescheid. An einem Tag der offenen Tür suchten wir das Gespräch mit der Schulpsychologin. Wir baten sie darum, den Direktor darauf vorzubereiten, dass wir neben dem üblichen Bewerbungsgespräch noch ein weiteres Anliegen auf dem Herzen hätten. Als es dann zu diesem Gespräch mit dem Schulleiter kam, haben wir ihn vorsichtig davon in Kenntnis gesetzt, dass sich an unserer Familiensituation in absehbarer Zeit etwas sehr Gravierendes verändern würde. Wir schenkten ihm komplett reinen Wein ein und er zeigte sich sehr beeindruckt, wie offen wir mit diesem Thema umgingen. Und als wir andeuteten, dass wir das Outing in Freds Klasse gerne anlässlich eines Elternabends machen würden, war er begeistert. Er sagte von sich aus, dass er gerne die Lehrerschaft im Vorfeld darüber informieren würde. Ich war sehr überrascht, dass es gerade an einer katholischen Schule so komplikationslos vonstatten ging, war ich doch klare Ablehnung von Seiten des Rektors der Grundschule gewohnt. Als ich ihm davon erzählte, war er schier entsetzt.
Als der erwähnte Elternabend nahte, erfuhren wir, dass Fred auch noch eine neue Klassenlehrerin bekommen würde, ein ganz junge Frau. Sie rief uns im Vorfeld an und wir unterhielten uns sehr intensiv. Sie schlug vor, die Eltern zwar an diesem Abend über die Veränderungen zu informieren, sie aber gleichzeitig zu bitten, den Kindern noch nichts zu sagen. Das sollten wir als Paar vor der Klasse machen. Leider war Jana noch in der Hautklinik, als der Elternabend stattfand. Also musste ich da alleine durch und ich hatte ganz schön Muffensausen. Mein Anliegen wurde als letzter Tagesordnungspunkt behandelt. Es waren tatsächlich alle Kinder mit mindestens einem Elternteil vertreten. Also fing ich an zu erzählen. Bis zum Schluss herrschte Mucksmäuschenstille. Als ich fertig war, war ich schweißgebadet. Was dann kam, verschlug mir den Atem. Die Eltern standen auf und applaudierten mir! Nicht eine einzige negative Bemerkung kam auf, im Gegenteil, alle Eltern waren damit einverstanden, dass Jana und ich die Kinder in einer eigenen Unterrichtsstunde über alles informieren sollten.
Es wurde eine Extranachmittagsstunde angesetzt. Im Normalfall hieß das für die Schüler, dass sie irgendwas angestellt hatten und sich nun einen Rüffel abholen mussten. Entsprechend demotiviert kamen sie auch in den Klassenraum, sie wussten ja nicht worum es tatsächlich ging. Jana war zwischenzeitlich aus der Klinik entlassen worden und übernahm diesmal das Reden selbst. Etwas zögerlich am Anfang, doch dann immer freier, erzählte sie alles, von dem Wunsch, der Hormontherapie, der bevorstehenden Operation. Aber auch von den Ängsten, die Fred hatte, Angst vor Mobbing und Ausgrenzung. Dann durften die Kinder Fragen stellen. Jana sagte ihnen, sie sollten keine Scheu haben, sondern von der Seele weg fragen. Die erste Frage wurde erstaunlicher Weise mir gestellt. Ein Schüler fragte doch tatsächlich mich, wie es mir in dieser Situation denn so ginge. Das war ich von Erwachsenen gewohnt, nicht aber von Kinder bzw. Jugendlichen. Ich war ehrlich in meiner Antwort, sagte, dass das Alles für mich auch nicht einfach sei, dass ich mir mein Leben natürlich anders vorgestellt hatte, dass wir es aber gemeinsam versuchen wollten. Es gab auch Fragen zur Hormontherapie, wie sie wirkt und zur anstehenden Operation. Jana ließ keine unbeantwortet.
Im Anschluss an diese Stunde beruhigten alle Mitschüler Fred hinsichtlich seiner Ängste. Ihr Verhalten ihm gegenüber würde sich nicht verändern. Das kam von Herzen und ist auch bis heute so. Möge sich mancher Erwachsene davon eine Scheibe abschneiden.
To be continued …