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DER TEUFELSKREIS UND DIE SUCHE NACH DEM AUSWEG

Ja, die Sommerferien waren entspannt. Eine Jugendfreizeit mit der katholischen Kirchengemeinde, die meine Tochter sogar als Teamerin begleitete, ein paar entspannte Tage im Saarland mit vielen guten Gesprächen und reichlich Bewegung an der frischen Luft, dann zwei Wochen „gammeln“ zu Hause. Das Kind ärgerte sich sogar, dass ihre Schule erst am Dienstag startete und wurde dafür glühend von ihrer Schwester beneidet. Eine gehörige Portion Aufregung stellte sich an dem Wochenende vor Schulbeginn schon ein, aber das musste ja nichts Negatives sein. Es fühlte sich eher so an, wie das Kribbeln im Bauch in der Warteschlange einer Achterbahn. Etwas unwohl war ihr bei dem Gedanken an den Mittwoch, denn da fand nach altem Stundenplan immer der sogenannte „Werkstatttag“ statt, der sie schon sehr beanspruchte.

Der erste Schultag kam, der Wecker klingelte, wir saßen beim Frühstück. Geschnatter überall. Die Kleine ging zum Bus, die Große fuhr ich auf dem Weg ins Büro an der Schule vorbei. So schön, so gut. Als mein Handy so gegen halb schellte, rechnete ich zwar mit einer Statusmeldung, aber dass sie so ausfiel, hat mich geschockt. Ein völlig aufgelöstes, schluchzendes Kind am anderen Ende. Nur weil ich ihre Nummer sah, wusste ich überhaupt, wer da dran war, denn reden konnte sie nicht. Nach schier unendlichen Minuten beruhigenden Zuredens konnte sie mir endlich erzählen, was sie so aus der Fassung gebracht hatte. Die Schule hatte mit dem berüchtigten Werkstatttag begonnen, der gleich bis drei Uhr nachmittags gehen sollte. Die Angst vor der Überforderung, unterzuckert, weil zu wenig gefrühstückt, die ganze Aufregung, all das ließ sie hyperventilieren, es drehte sich, ihr wurde schlecht, die Toilette schien der einzig sichere Ort in der ganzen Schule zu sein. Sie hatte sich dorthin geflüchtet, nachdem auch noch der Lehrer sie um ein Gespräch gebeten hatte. Eine klassische Panikattacke, neu für das Kind. Es gelang mir, sie soweit zu beruhigen, dass sie die Kabine verlassen konnte und zurück zu den anderen ging. Und obwohl sich das Gespräch mit dem Lehrer als ganz harmlos erwies, gelang es ihr nicht mehr, sich auf irgendetwas zu konzentrieren und die Panik schwappte immer wieder wie eine Welle über sie. Nach einem erneuten, tränenreichen Telefonat gab sie auf und fuhr nach Absprache mit dem Lehrer nach Hause. Als ich nachmittags nach Hause kam, sah es so aus, als wäre es eine einmalige Angelegenheit gewesen und am Mittwoch Morgen ging sie auch wieder und blieb den ganzen Vormittag. Beruhigt schwieg mein Handy. Bis zum frühen Nachmittag. Wieder dieses herzergreifende, verzweifelte Schluchzen … Mama, es hört nicht auf … WAS? … es hört nicht auf zu Bluten! Sie hatte sich geritzt, saß jetzt in der Badewanne, versuchte mit Handtüchern die Blutung zu stillen. Ich ließ alles stehen und liegen und fuhr heim. Es sah schlimmer aus als es war, doch der Schock auf beiden Seiten saß tief. Warum … war die Frage, die wir lange versuchten zu klären. Der Gedanke, versagt zu haben, weil es am Dienstag in der Schule nicht geklappt hat und die Angst, es wieder nicht zu schaffen, das musste als Erklärung vorerst reichen. Der „Ritzdruck“ wie sie es nannte, war einfach übermächtig geworden. Und alle erlernten Skills aus Klinikzeiten halfen nicht.

Donnerstag Morgen sah ich mich in Zeiten von vor den Ferien zurückversetzt. Keinerlei Reaktion, als ich sie weckte. Ansonsten verlief der Tag ruhig. Freitag das selbe Spiel und ich war wohl nicht die Einzige, die das Wochenende herbei sehnte. Es kam zu spät, denn mittags riss mich wieder ein Anruf aus der trügerischen Ruhe. Das gleiche Spiel wie am Mittwoch, noch mehr, noch tiefer, noch mehr Auflösung beim Kind. Ja, wir bekamen die Wunden in den Griff, aber die Seele hatten tiefere Macken davon getragen. Endlose Gespräche am Wochenende, doch wir drehten uns im Kreis.

Die kommende Woche war mit Terminen und Telefonaten angefüllt. Anruf bei der Psychiaterin in der Klinik, ob es nicht sinniger wäre, die Medikamentendosis zu erhöhen. Das wurde weit weg gewiesen, so ein Wiedereinstieg nach den Ferien sei schwierig, ich sei schon die dritte Mutter, die anrief, das würde wieder. Aha. Ein Telefonat mit der behandelnden Psychologin in der Klinik verlief sehr hitzig. Ich solle keinen Druck auf das Kind ausüben, um sie nicht mehr zu belasten und im übrigen wäre sie inzwischen in einem Alter, wo sie für sich selbst Verantwortung übernehmen müsse. Aha. Und außerdem hätten wir ja der Erhöhung der Medikation nicht zugestimmt. Moment mal, das war andersrum. Ach so, ja, das kann bei einer Übergabe schon mal schiefgehen. Sehr vertrauenswürdig, wirklich. Maria erhielt den Tipp, sich zusammenzureißen und einfach mal zu gehen. Ja klar. Wieder Telefonat mit dem Psychiater, der eigentlich nicht zuständig war, aber die Kollegin war krank. Von ihm bekamen wir eine Adresse von einem niedergelassenen Psychotherapeuten, der seine Praxis erst vor vier Wochen eröffnet hatte. Sofortige Nachfrage brachte meinem Kind tatsächlich einen Termin für Freitag ein. Zwischendurch noch ein Treffen mit den Damen der Einzelfallbetreuung, da hier das Personal wechselte. Nun gut, wurde aber von meiner Tochter so akzeptiert, was mich beruhigte. Zwischendurch Atteste vom Hausarzt besorgen, damit die Fehlstunden in der Schule nicht zu sehr anwuchsen. Dann Kontaktaufnahme mit dem Klassenlehrer, der wie immer unendlich hilfsbereit war und wieder nicht vergaß, dem Kind und mir viel Kraft zu wünschen.

Leider änderte sich am morgendlichen Ritual nichts. Kein Schulbesuch möglich, aber wenigstens blieben die Tage unblutig. Der Ritzdruck wurde durch Putz-und Aufräumorgien zu Hause abgebaut. Jeden Morgen spielte sich bei uns da gleiche ab. Ich weckte sie und redete ihr gut zu, es doch zu probieren, würde sie auch in die Schule fahren. Und sie wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Mittags entschuldigte sie sich für ihr Verhalten, doch ändern konnte sie es nicht. Was würde ich dafür geben, wenn sie die vielen Hände, die sich ihr entgegenstreckten, die Brücken, die ihr gebaut wurden, nur annehmen könnte. Mit jedem Tag nicht in der Schule würde es schwieriger werden, die Kluft zu überwinden. Sie wusste das. Und konnte es nicht ändern. Für Außenstehende schwer zu akzeptieren.

Dann kam der Freitag mit dem Termin beim Psychotherapeuten. Es war zwar nur ein einführendes Gespräch, doch ich merkte, die Chemie zwischen den beiden stimmte. Sie bekam gleich mehr Termine und die ersten Tipps. Schule könnte man auch für zwei Stunden besuchen. Wenn es um acht nicht klappte, dann vielleicht im zehn. Aber bitte jeden Tag probieren. Am Montag Morgen sprach sie immerhin schon wieder morgens mit mir, die Tür blieb auf, die Jalousie oben. Die Angst, dass das Telefon wieder schellt, schwächt sich langsam ab. Da ist er wieder … der zarte blaue Schimmer ganz am Ende des Horizontes.

STOLPERN – FALLEN – LIEGEN BLEIBEN … die Dunkelheit findet dich schon!

Viele Monate hatte das Kind nicht so einen glücklichen Eindruck gemacht. Endlich die Anerkennung, die ihr so lange verwehrt geblieben war. Die schulischen Leistungen stiegen permanent, lachend nannte sie sich selbst einen Streber. Es hagelte Einser. Und jeden Mittag sprudelte es nur so aus ihr heraus. Sie erzählte in den ersten Wochen des neuen Schuljahres mehr (Positives) aus der Schule, als in den vergangenen neun Jahren zusammen. Kein Problem mehr mit dem morgendlichen Aufstehen, keines mit Hausaufgaben oder Lernen. Es lief wie am Schnürchen. Sie war Teil einer intakten Klassengemeinschaft. Der einzige Punkt, der sie störte, brachte mich zum Schmunzeln: Sie verabscheute es, wenn sie aufgrund der Tatsache, dass sie ein Mädchen ist, in irgendeiner Weise bevorzugt wurde.

Dann kam der Moment, in dem eine Verkettung unglücklicher Umstände alles zum Einsturz brachte. Eine durchgemachte Nacht um für die Lieblingsband zu voten, der Ärger über die eigene Unfähigkeit, am nächsten Morgen in die Schule zu gehen, heftig einsetzende Schmerzen, weil natürlich gerade jetzt auch noch die Periode losging und die unbedachte Bemerkung eines guten Freundes. Ein teuflischer Cocktail, der den sicheren Boden unter den Füßen erweichen ließ und die Dunkelheit dazu brachte, langsam aber sicher von unten nach oben zu wandern. Mit der ersten Selbstverletzung (tiefes Ritzen) seit Monaten wollte sie wohl die aufkommende Leere vertreiben. Doch das Versagen, das Übertreten ihrer selbst aufgestellten Regeln, ließ den wankenden Boden zu Treibsand werden. Langsam aber sicher – scheinbar unaufhaltsam – versank sie in einer Lethargie, die nichts mit Schulangst zu tun hatte, die sie später selbst als die große Leere bezeichnete.

Es hatte eine Weile gedauert, bis ich merkte, dass etwas nicht stimmte. Auch meine Wachsamkeit hatte nachgelassen, lief doch alles so hervorragend. Außerdem kam es durchaus schon einmal vor, dass sie aufgrund starker Unterleibsschmerzen während ihrer Periode zwei, drei Tage nicht in die Schule gehen konnte. Und dass sie mit dem frisch verletzten Arm nicht in die dreckige Werkstatt wollte, war ja auch verständlich. Denn wenn ich spätnachmittags nach Hause kam, wirkte sie zwar gedämpft, aber meine Alarmsensoren schlugen noch nicht an. Kopfschmerzen, eine heftige Erkältung, aus einer Woche wurden zwei, wenn auch durch einen der Donnertagsfeiertage abgekürzte Schulwoche. Erst in der dritten Woche wurde ich hellhörig, vielleicht weil ihr die Ausreden ausgingen. Am Wochenende hatte ich bereits beobachtet, dass sie höchstens noch aufstand, um auf die Toilette zu gehen, etwas zu trinken oder eine Klitzekleinigkeit zu essen. Ansonsten hielt sie sich in ihrem Zimmer auf – eigentlich nichts Besonderes – aber die Jalousien waren den ganzen Tag unten, sie las ihre geliebten Mangas nicht mehr, hörte im Höchstfall noch KPOP um sich dann über negative Fankritiken bis in den Weinkrampf hinein aufzuregen.

Zuerst vermutete ich die Rückkehr der Schulangst. Mit allen Mitteln versuchte ich aus ihr heraus zu bekommen, was denn die Ursache für ihr Verhalten sein könne. Die Aussage „weiß ich doch selbst nicht!“ machte mich rasend. Inzwischen weiß ich, dass es tatsächlich so ist. Das Kind hat sich den Kopf zermartert und fand doch nur Leere. Aber bis es bei mir klick gemacht hat, oh mein Gott, es hat gedauert. Mit allen Mitteln habe ich versucht, sie aus dem Bett zu holen. Das ging von Betteln und Versprechungen machen, bis hin zu heftigem Geschreie und Tobsuchtsanfällen meinerseits einschließlich Verboten. Zuckerbrot und Peitsche. Nichts half. Das Resultat war nur noch weiterer Rückzug. In dieser heißen Phase hatten wir unser Halbjahresgespräch mit dem Jugendamt und den Einzelfallbetreuern vom Verein Mäander, die Maria seit ihrem ersten Klinikaufenthalt zur Seite standen. Auch das war ein heftiges Gespräch, das Kind relativ verstockt, ich vor Wut in Tränen aufgelöst. Im Laufe dieses Meetings sprach meine Tochter davon, dass der Gedanke, dass die Welt ohne sie viel besser zurechtkäme, zurückgekehrt sei. Da saßen wir alle mit einem Male senkrecht in den Stühlen. Vor Ort wurde eine Art Vertrag aufgesetzt, in dem sie quasi mit ihrer Unterschrift bestätigte, dass sie sich nichts antun würde. Nur ein Stück Papier, aber vielleicht half es ja. Mit dieser furchtbaren Aussage als „Druckmittel“ gelang es mir dann für den nächsten Tag einen Akuttermin in der psychiatrischen Ambulanz der Klinik zu bekommen, in der sie im vergangenen Jahr so viele Wochen verbracht hatte. Dieses Mal sprachen wir mit einer Psychiaterin, keiner Psychologin. Das kam mir wie ein Glückgriff vor. Nachdem sie sich alles angehört hatte, brachte sie eine medikamentöse Therapie ins Spiel. Ein neues Medikament, dass gerade bei Jugendlichen bessere Erfolge erzielte, als die herkömmlichen. Meine Tochter war damit einverstanden. Mit einer sehr geringen Dosierung wurde begonnen, zuvor klinische Untersuchungen wie EKG, LuFu und Blutwertbestimmung durchgeführt. Die Wirkung sollte in zwei bis sechs Wochen eintreten. Eine gefühlte Ewigkeit tat sich nichts. Zuhause wiederholten wir jeden Morgen das gleiche Ritual. Ich ging zweimal in ihr Zimmer um sie zu wecken, sie ignorierte mich zweimal. Doch mehr Versuche unternahm ich nicht. Auf der einen Seite sollte der Druck ihr gegenüber nicht noch größer werden, denn umso heftiger war bei ihr das Gefühl, wieder versagt zu haben, zum anderen war auch ich langsam am Ende meiner Kraft angekommen. Die Sommerferien waren fast erreicht, mit der Schule stand ich längst in regem Kontakt und war überglücklich, dass sie uns so unterstützten und den Rücken freihielten. Zwar ging das Kind noch nicht wieder in die Schule, aber sie nahm am Elternnachmittag teil, bei dem es um die Klassenfahrt im nächsten Schuljahr ging und war immer noch Teil der Klassen-WhatsApp-Gruppe. Holte sogar ihr Zeugnis selbst in der Schule ab und freute sich wahnsinnig über eine Karte ihrer Lehrer und noch mehr über ein Schulshirt auf dem alle Klassenkameraden unterschrieben hatten, samt Klassenfoto. Wir sahen in diesen kleinen Aktionen einen blauen Streifen am Horizont. Für meine beiden Töchter sollte es in der ersten Woche auf Freizeit nach Ameland gehen. Kurz davor MUSSTE meine Große morgens um sechs aufstehen, weil sie als Teamerin verpflichtet war, beim Beladen des LKWs zu helfen. Ich machte mir wenig Hoffnung, dass das klappen würde, hatte mit den Betreuern schon darüber gesprochen. Also morgens das übliche Ritual: Reingehen, Wecken, Umdrehen, Rausgehen. Ich kam nicht aus dem Zimmer. Sie sprang aus dem Bett und schrie mich an, ob ich nicht endlich aufhören könnte, sie mitten in der Nacht zu wecken. Ich blieb stehen, drehte mich um und lachte schallend, bis mir die Tränen kamen. Reichlich perplex starrte sie mich an. Als ich wieder Luft bekam erklärte ich ihr, dass ich mich noch nie so sehr darüber gefreut hätte, dass sie mich anschreit, wie heute. Endlich eine Reaktion, endliche offen gezeigte GEFÜHLE!

Die Tabletten wirkten und uns standen sechs Wochen relativ entspannte Sommerferien ins Haus. Unsere Hoffnung wuchs …